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Nachbericht: Erster Digitaler Berliner Stahldialog 2021

Rahmenbedingungen für eine grüne Stahlproduktion:
„Wir brauchen eine kohärente Politik“

Auf Einladung der Wirtschaftsvereinigung Stahl diskutierten Vertreter*innen aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft im Rahmen des ersten Digitalen Berliner Stahldialogs am 28. April 2021 „Rahmenbedingungen für eine grüne Stahlproduktion in Deutschland“. Trotz unterschiedlicher Perspektiven auf die komplexen Aspekte des Themas waren sich die Teilnehmenden unter anderem in zwei Punkten einig: die Industrie benötigt geeignete Förderinstrumente und langfristige Planungssicherheit, um die für die Transformation notwendigen Investitionen zu tätigen.

Für die Stahlbranche stehen 2021 entscheidende Weichenstellungen an: Damit die geplante und politisch gewünschte Transformation in Richtung grüner Stahlproduktion an Fahrt aufnehmen kann, müssen zeitnah konkrete Maßnahmen und Instrumente auf den Weg gebracht werden – in Deutschland wie in Europa. Wie diese aussehen und umgesetzt werden können, diskutieren bei der ersten Ausgabe des Digitalen Berliner Stahldialogs unter Moderation von Martin Wocher, die parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Katharina Dröge, der wirtschafts- und energiepolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Bernd Westphal, Dr. Hubertus Bardt, Geschäftsführer und Leiter Wissenschaft vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) und Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl.

Derzeitige politische Rahmenbedingungen nicht ausreichend

In einem Impulsvortrag weist Hans Jürgen Kerkhoff auf die Chancen für den Klimaschutz hin, die mit der Transformation der Stahlindustrie in Richtung CO2-armer Verfahren einhergehen: „Die Stahlindustrie steht bei der Transformation des industriellen Bereichs im Fokus, weil sie rund 30 Prozent der industriellen Emissionen erzeugt.“ Darüber hinaus stelle die Branche zum Beispiel mit der wasserstoffbasierten Direktreduktion oder der schrottbasierten Elektrostahlproduktion jene zentralen Technologien zur Verfügung, die notwendig sind, um die angestrebte industrielle Transformation umzusetzen. Als nicht ausreichend, um den Wandel erfolgreich einzuleiten, bewertet der Verbandspräsident die aktuellen politischen Rahmenbedingungen. „Wenn für die Wasserstoffstrategie dieses Landes CO2 die Währung ist, dann kann die Stahlindustrie die größte Hebelwirkung entfalten.“ Dann müsse laut Kerkhoff aber auch die industrielle Anwendung im Fokus dieser Strategie stehen. Sorge macht Kerkhoff auch das dynamische Wettbewerbsumfeld der Branche, in dem kein Level Playing Field, also keine gleichen Wettbewerbsbedingungen herrschen. Zwar habe die Bundesregierung mit dem Handlungskonzept Stahl Mitte letzten Jahres ein Papier vorgelegt, das grundsätzlich alle wichtigen Elemente einer erfolgreichen Transformation beschreibe – unter anderem auch Positionen zum Außenhandel sowie zum fairen Wettbewerb oder Förderungsinstrumenten. „Wir brauchen aber eine kohärente Politik, die auch europäisch flankiert wird. Wenn wir in Deutschland an einem Handlungskonzept Stahl arbeiten, müssen wir auch die europäischen Rahmenbedingungen im Blick haben“, sagt Kerkhoff.

Ambitionierte EU-Klimaziele als Herausforderung

Eine aktuelle Herausforderung für die Branche sind die erst kürzlich verschärften EU-Klimaziele bis 2030 bzw. 2050. „Beide Ziele sind ausgesprochen anspruchsvoll, kommen aber nicht überraschend“, ordnet Dr. Hubertus Bardt ein. Er zeigt sich irritiert davon, dass die Politik das Pferd von hinten aufzäume: „Wir sind sehr stark darin, klare Ziele zu definieren, hängen aber weit hinterher, die Wege dorthin zu beschreiben und entsprechende Voraussetzungen zu schaffen“, erklärt der Wirtschaftsexperte. Bardt sieht die Politik jetzt in der Pflicht, zügig zu handeln. Durch die Corona bedingte Wirtschaftskrise stünden Investitionen mehr denn je auf dem Prüfstand. „Der Zeitdruck ist groß, jetzt so schnell wie möglich die notwendigen Investitionen für die Transformation sicherzustellen. Tun wir das nicht, blutet die Branche aus – das können wir alle nicht wollen.“

Schnell die erforderlichen Rahmenbedingungen für Investitionen auf den Weg zu bringen, wird auch in die Verantwortung der neuen Bundesregierung fallen, die im September ihre Arbeit beginnt. Aus der Perspektive von Bernd Westphal wird es vor allem darum gehen, Anpassungsprozesse zu organisieren und die klimaneutrale Produktion auf den Weg zu bringen. „Viele Unternehmen sind bereits unterwegs, vielerorts ist der Weg vorgezeichnet, wann man klimaneutral produzieren kann“, berichtet Westphal. „Jetzt gilt es politisch langfristig belastbare Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass in den Vorständen und Aufsichtsräten auch die Investitionen freigegeben werden. Wir dürfen jetzt nicht regulatorisch Investitionen verhindern.“


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Klimaschutz als Innovationsperspektive

Klar zum Transformationsprozess der Stahlindustrie bekennt sich beim Berliner Stahldialog auch Katharina Dröge: „Wir wollen die Transformation zum Mittelpunkt einer möglichen grünen Regierungsbeteiligung machen. Wenn wir sagen: ‚Klimaschutz ist die Leitlinie zum Umbau der Industrie‘, müssen wir auch zeigen, wie das geht.“ Ziel sei es, die Stahlindustrie in Deutschland und Europa zu halten und Jobs zu sichern. „Gerade im Klimaschutz liegt eine Innovationsperspektive für die Stahlindustrie“, so die Bündnis90/Die Grünen-Sprecherin. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um die richtige Wasserstoff-Infrastruktur und -Strategie zeigt sie Verständnis für den Wunsch nach Verlässlichkeit. „Mit Recht verlangt die Industrie Planungssicherheit, wenn sie vor so gigantischen neuen Investitionszyklen steht. Und diese muss eine neue Bundesregierung geben.“

Beim Stichwort Investitionen bittet Moderator Martin Wocher den Wissenschaftler Dr. Bardt darum zu skizzieren, was es eigentlich braucht, um die politisch gewünschte Klimaneutralität herzustellen. „Das fängt mit CO2-neutralem Strom an, der auch noch günstig sein muss. Das war beim Ausbau der Erneuerbaren Energien in der Vergangenheit ein Problem und darf jetzt nicht wieder ein Problem werden“, so der Experte des IW. Dazu brauche es eine geeignete Investitionsförderung. Als problematisch bewertet Bardt die hohen, langfristigen Kosten, die auch von der Marktentwicklung sowie den CO2-Preisen in anderen Produktionsländern abhängig seien. Dafür gäbe es noch keine Lösung. Hans Jürgen Kerkhoff pflichtet bei und unterstreicht: „Wir haben Ziele, aber keine geeigneten Instrumente, um diese zu erreichen.“ Als Beispiel nennt der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl die Unterversorgung der Stahlindustrie mit Zertifikaten im EU-Emissionsrechtehandel. „Dadurch werden den Unternehmen wichtige Investitionsmittel entzogen.“

Was das Tempo der Transformation angeht, zeigt sich Katharina Dröge realistisch: „Wir Grünen wissen auch, dass die Stahlindustrie nicht morgen alle Anlagen neu bauen und übermorgen in Betrieb nehmen kann. Wir werden für die Wettbewerbsfähigkeit der konventionellen Anlagen eine Antwort geben müssen.“ Dennoch halte sie steigende ETS-Preise für ein Muss. Zum Schutz der heimischen Stahlindustrie befürwortet sie einen Grenzausgleich, der wie ein Klimazoll funktionieren soll. Ein System, bei dem sich die Grünen auch eine Zusammenarbeit mit den USA erhoffen, wo Präsident Joe Biden einen ähnlichen Klimazoll einführen will. Bardt hat aufgrund mangelnden Monitorings und fehlender Zertifizierungen allerdings Zweifel an der Praxistauglichkeit: „Was ist denn der CO2-Anteil in einem Importprodukt? Und wie verhindere ich, dass ein chinesischer Importeur sagt, mein Strom kommt aus dem Dreischluchten-Staudamm und ist damit klimaneutral und ich zahle deshalb keinen Grenzausgleich?“

Am Ende des ersten Digitalen Berliner Stahldialogs steht die Erkenntnis: Um die komplexen Herausforderungen der Transformation lösen zu können, bedarf es vor allem eines intensiven Miteinanders aller Beteiligten. Die lebendige und konstruktive Diskussion der Teilnehmer beim Berliner Stahldialog ist dafür beispielhaft. Das Format wird von der WV Stahl in den kommenden Wochen mit dem Ziel fortgesetzt, den politischen Prozess zur Umsetzung des Handlungskonzepts Stahl weiter zu unterstützen.